Innovationen für die Fahrgäste am Markt abfragen

Zwei Schienen verlaufen in einem Gleisbett parallel nebeneinander bei Sonnenaufgang.

Programm

18. Mai 2022

Im Gespräch mit Dr. Ute Jasper, Partnerin bei Heuking Kühn Lüer Wojtek

Im Zielbildprozess von Fokus Bahn NRW beschreibt die Vergaberechtsexpertin Dr. Ute Jasper Chancen und Risiken der künftigen Wettbewerbsentwicklung im SPNV Nordrhein-Westfalens, die besonderen Herausforderungen nach der Abellio-Insolvenz und die Notwendigkeit von Innovationen für die Fahrgäste.


Insolvenzrisiken minimieren, unternehmerische Spielräume öffnen und Innovationskonzepte einfordern: Nach der Abellio-Insolvenz diskutieren die Akteur/innen von Fokus Bahn NRW über ein neues Zielbild und vertragliche Strukturen für die langfristige Sicherung eines wettbewerblichen, stabilen SPNV-Angebots. Die Juristin und Vergaberechtsexpertin Dr. Ute Jasper, Partnerin bei Heuking Kühn Lüer Wojtek, referierte in einem Zielbild-Workshop über Verkehrsverträge als Grundlage der Marktentwicklung. Im anschließenden Hintergrundgespräch setzt sie sich mit Chancen und Risiken der Wettbewerbsentwicklung im SPNV, den besonderen Herausforderungen der Abellio-Insolvenz sowie Reaktionsmöglichkeiten in Vergabeverfahren und Verträgen auseinander. Nicht zuletzt gelte es, Innovationen für die Fahrgäste am Markt abzufragen.


Sie haben die Entwicklung des SPNV-Wettbewerbs in NRW und bundesweit als Vergaberechtsexpertin maßgeblich geprägt und begleitet. Worin bestanden für Sie die größten Herausforderungen, die es zu meistern galt?


Dr. Ute Jasper: Ich sehe im Rückblick vier besondere Herausforderungen, die mit den Beiträgen aller Beteiligten auf Auftraggeber- und Auftragnehmerseite und mit Unterstützung des Landes NRW hervorragend gemeistert wurden. Zunächst den Übergang vom DB-Monopol in den Wettbewerb: Der SPNV wurde von einem Monopol- und Kostenerstattungssystem in den Wettbewerb überführt. Die Vergabeverfahren sparten sehr viel Geld ein. Die Wettbewerbsgewinne konnten verwendet werden, um den SPNV in Taktzahl und Qualität maßgeblich zu verbessern.


Mit der globalen Finanzkrise folgte eine Herausforderung, die sich– wie so oft bei Krisen – auch als Chance herausstellte. Da die Eisenbahnverkehrsunternehmen Schwierigkeiten hatten, die Züge zu finanzieren, entwickelten wir das VRR-Modell, bei dem sie zwar die Züge liefern mussten, diese aber von den Aufgabenträgern finanziert und im Eigentum gehalten wurden. Dieses Modell hat sich inzwischen deutschlandweit zu einem Vorbild entwickelt. Grund dafür ist, dass die öffentliche Hand immer deutlich günstiger finanzieren kann, als jedes private Unternehmen. Die Zinsgewinne, die jährlich viele Millionen Euro ausmachen, können nun zusätzlich zugunsten der SPNV-Qualität eingesetzt werden.


Dann wurde mit dem Premiumprodukt im SPNV, dem RRX, das Lebenszyklusmodell umgesetzt. Die Aufgabenträger strebten nicht nur das beste Verhältnis von Preis und Qualität zum Zeitpunkt der Beschaffung an, sie wollten die Züge bestellen, die über 30 Jahre insgesamt ökologisch und ökonomisch am besten sind. Mit diesem Schritt wurde nicht nur Geld gespart, sondern über geringeren Energieverbrauch auch die Umwelt geschont.


Die bislang letzte Herausforderung sehe ich in der Abellio-Insolvenz, die trotz des erfolgreichen Betreiberwechsels noch fortwirkt und die Akteur/innen im SPNV vor neue Aufgaben gestellt hat.


Portrait von Dr. Ute Jasper, Partnerin bei Heuking Kühn Lüer Wojtek Quote

NRW ist seit vielen Jahren Vorreiter für neue erfolgreiche Modelle im SPNV-Wettbewerb.

Dr. Ute Jasper

Partnerin bei Heuking Kühn Lüer Wojtek

Wie sehen Sie den SPNV-Wettbewerb in NRW heute – und wie beurteilen Sie die Chancen und Risiken der künftigen Wettbewerbsentwicklung?


Dr. Ute Jasper: NRW ist seit vielen Jahren Vorreiter für neue erfolgreiche Modelle im SPNV-Wettbewerb. Dies zeigt sich jetzt auch an der Beschaffung batteriebetriebener Züge und bei den anstehenden, stärker innovations- und qualitätsbezogenen Ausschreibungen. In dem Know-how, mit dem NRW den SPNV weiterentwickelt hat, liegt eine große Chance. Das größte Risiko sehe ich darin, dass sich die Rahmenbedingungen und damit die Kalkulationsanforderungen immer schneller verändern, weil globale Effekte nicht vorherzusehen sind. Darauf müssen alle Beteiligten in Vergabeverfahren und Verträgen Rücksicht nehmen und Reaktionsmöglichkeiten einbauen. Dies kann über höhere Sicherheiten geschehen, um Insolvenzen zu vermeiden. Aber es gibt klügere Maßnahmen, die weniger Geld kosten. Denn man muss bedenken, dass man Sicherheiten auch teuer bezahlt, wenn sich die Risiken nicht realisieren. Also braucht es "Gummibänder" in den Vergabeverfahren und Verträgen, die wir derzeit deutschlandweit entwickeln.


Sie haben den Betreiberwechsel nach der Abellio-Insolvenz angesprochen. Er war der mit Abstand größte gemeinsame Kraftakt für die Mitglieder von Fokus Bahn NRW. Was kann die Branche daraus lernen?


Dr. Ute Jasper: Aus der Abellio-Insolvenz muss man drei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens müssen Insolvenzrisiken weiter minimiert werden und zweitens müssen Auffang- und Übergangslösungen – für den Fall, dass doch Insolvenzen eintreten – noch besser vorgeplant werden. Drittens muss verhindert werden, dass insolvente Unternehmen mit Drohungen wie "Wenn ihr nicht zahlt, steht der Verkehr still" arbeiten können. Für alle drei Herausforderungen werden in NRW bereits Verfahrens- und Vertragsregelungen entwickelt.


Die NRW-Bahnen wünschen sich mehr unternehmerische Spielräume, um ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen und Kostenentwicklungen ausgleichen zu können. Wie beurteilen Sie das?


Dr. Ute Jasper: Dieser Wunsch ist verständlich. Aber auch gefährlich. Kostenentwicklungen sollten über möglichst präzise Preisindizes ausgeglichen werden, damit die Unternehmen nur geringe Risikozuschläge, beispielsweise für Energie, kalkulieren müssen. Zusätzliche unternehmerische Spielräume sind denkbar, wenn man den Wettbewerb um die Instandhaltung und die Reinigung zwischen Fahrzeugindustrie, Eisenbahnverkehrsunternehmen und Drittanbietern öffnet. So kann der Markt die beste und wirtschaftlichste Lösung entwickeln. Nicht zuletzt sollte man Innovationskonzepte einfordern und dafür Budgets vorsehen, die allerdings nicht zu einem Kostenerstattungsprinzip führen dürfen, wie wir es aus den alten Zeiten vor Beginn des Wettbewerbs kennen. Sonst laufen die Eisenbahnverkehrsunternehmen Gefahr, dass man sich darüber Gedanken macht, die Leistungen durch eine eigene Gesellschaft zu erbringen. Denn ein System der Kostenerstattung führt dazu, dass dann Aufgabenträger die Gewinne besser selbst vereinnahmen können.


Gemeinsam bestmögliche Lösungen im Sinne der Fahrgäste zu entwickeln ist das zentrale Commitment der Gemeinschaftsinitiative Fokus Bahn NRW. Welchen Rat geben Sie uns mit auf den Weg?


Dr. Ute Jasper: Meiner Meinung nach liegt genau hier der Weg in die Zukunft: Der SPNV in NRW hat in den letzten Jahren die Hürden vom Preis- zum Qualitätswettbewerb bis hin zum Nachhaltigkeitswettbewerb vorbildlich genommen. Jetzt sind Innovationen für die Fahrgäste am Markt abzufragen und einzubinden. Dabei geht es nicht nur um Komfort, sondern meines Erachtens mittelfristig auch um das Verknüpfen verschiedener Aufgaben, wie von elektronischem Vertrieb und Fahrbetrieb. Beispielsweise müssten sich die Ticketpreise nach der Auslastung der Züge richten. Ich freue mich auf die innovativen Ideen aller Beteiligten. Die Juristen haben einen großen Werkzeugkasten, der sehr gut ausgerüstet ist, um alle Ideen umzusetzen.