Mobilität neu denken und mehr Markt wagen!

Gleise bei Sonnenaufgang.

Programm

28. Juni 2022

Im Gespräch mit Dr. Tobias Heineman, Sprecher der Geschäftsführung von Transdev und Präsident von mofair e.V.

Im Zielbildprozess von Fokus Bahn NRW plädiert Dr. Tobias Heinemann unter anderem für ganzheitliche Mobilitätskonzepte und Verkehrsverträge nach niederländischem Vorbild.


Ganzheitliche Mobilitätskonzepte als Leitmotiv für künftige Vergaben und die Verankerung von Innovationsbudgets in den Verkehrsverträgen: Mit diesen Ideen initiierte Dr. Tobias Heinemann, Sprecher der Geschäftsführung von Transdev und Präsident von mofair e. V., im vierten Zielbild-Workshop von Fokus Bahn NRW einen spannenden Austausch über eine kundenorientierte Marktentwicklung und Innovationen im SPNV. Im anschließenden Hintergrundgespräch erklärte er, warum sich ein Blick über den Tellerrand oder besser in die Niederlande lohnen kann.


Derzeit erbringen insgesamt 13 Eisenbahnverkehrsunternehmen Leistungen im SPNV Nordrhein-Westfalens. Zehn Unternehmen arbeiten in der Brancheninitiative Fokus Bahn NRW zusammen. Wie gut funktioniert aus Ihrer Sicht der Wettbewerb auf der Schiene in unserem Bundesland?


Dr. Heinemann: Der SPNV-Markt in NRW ist wettbewerblich geprägt und ein gutes Spiegelbild für die allgemeine Wettbewerbssituation auf der Schiene. Neben dem Marktführer DB Regio stehen starke Eisenbahnverkehrsunternehmen wie die eurobahn, National Express, VIAS oder Transdev. Darüber hinaus agieren auch kleinere Bahnen sehr erfolgreich in ihren Marktsegmenten. Gleichzeitig werden im bevölkerungsreichsten und verkehrsstarken Bundesland NRW die Probleme sichtbar, die zur Markterosion der letzten zwölf Monate geführt haben und mit denen sich die Bahnbranche auch bundesweit auseinandersetzen muss.


Sie beziehen sich da vor allem auf den Marktaustritt von Abellio Rail NRW und den Rückzug der SNCF aus der eurobahn. Wo sehen Sie die Ursachen dieser Markterosion?


Dr. Heinemann: Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen, die nicht vorhersehbar waren und die alle Marktteilnehmer und Marktteilnehmerinnen betreffen. Die Unternehmen stecken in einer Kostenfalle und die aktuelle Inflation wird diese Entwicklung weiter verschärfen, nicht nur bei den Energiepreisen. Wesentliche Gründe sind der Mangel an Fachkräften bei gleichzeitig steigenden Personalkosten sowie diese hundsmiserable, katastrophale Schieneninfrastruktur, gepaart mit einem unzureichenden Baustellenmanagement. Inzwischen müssen nicht nur bei extremen Unwettern, sondern fast schon nach jedem Gewitter Schienenersatzverkehre organisiert werden – deutlich mehr, als ursprünglich kalkuliert. Da wie bei Lokführerinnen und Lokführern auch bei Busfahrerinnen und Busfahrern Personalmangel herrscht, wird auch der Schienenersatzverkehr immer teurer. Diese steigenden Kosten lassen sich nicht durch andere Teile der Wertschöpfungskette ausgleichen. Die Eisenbahnverkehrsunternehmen sind auf ihre Rolle als Beförderer reduziert. Eine höhere Wertschöpfung, beispielsweise durch Instandhaltung, ist für sie nicht mehr möglich.


Portrait von Dr. Tobias Heineman, Sprecher der Geschäftsführung von Transdev und Präsident von mofair e.V. Quote

Die Politik muss hier den Mut finden, die Zuständigkeiten der Aufgabenträger für die gesamte Mobilität zu definieren. Sonst kommt die Mobilitätswende nicht weiter voran.

Dr. Tobias Heineman

Sprecher der Geschäftsführung von Transdev und Präsident von mofair e.V.

Im Zielbildprozess führen die Eisenbahnverkehrsunternehmen und Aufgabenträger im SPNV Nordrhein-Westfalens bereits eine intensive Diskussion um die gängige Vergabepraxis und nicht kalkulierbare Kostensteigerungen. Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern?


Dr. Heinemann: Die Eisenbahnverkehrsunternehmen brauchen mehr Spielräume zur Wertschöpfung – Stichwort Instandhaltung – und für Innovationen. Vergaben und Verträge werden vorranging vom Preis pro Zug-Kilometer bestimmt. Unternehmenseigene Akzente und Innovationen sind da kaum möglich. Das System eines starren Verkehrsvertrags lässt sich aber aufweichen. Ich empfehle dafür, dass die Unternehmen in ihren Angeboten sogenannte Innovationsbudgets kalkulieren, die bezogen auf einen Zug-Kilometer einen festen Euro-Wert beinhalten und für jedes Vertragsjahr bereitgestellt werden. Einmalig kalkuliert, lassen sich damit neue, innovative Markttrends aufgreifen und punktuell über eine Vertragslaufzeit von zehn bis 15 Jahren umsetzen. Natürlich müssen darüber hinaus die Verkehrsverträge auf der Kostenseite so indexiert werden, dass die tatsächliche Kostensteigerung, die bei den Verkehrsunternehmen anfällt, auch von allgemeinen Indizes übernommen wird und nicht deutlich höher ist als der Ausgleich durch die Besteller.


„Mehr Markt wagen!“ titelte der vierte Workshop im Zielbildprozess von Fokus Bahn NRW. Ist das der Weg zu mehr Verkehr und zur Mobilitätswende?


Dr. Heinemann: Wenn wir die Mobilitätswende schaffen wollen, müssen wir die öffentliche Mobilität nach dem Bedarf am Markt neu denken. Der Kunde sucht nicht nach einer Bus- oder Bahnlösung, sondern nach einer Mobilitätslösung. Die Verkehrsverträge, die in Nordrhein-Westfalen in den Wettbewerb gestellt werden, konzentrieren sich aber lediglich auf das Erbringen einer Leistung auf der Schiene. Das geht an den Bedürfnissen der Menschen vorbei, die ein durchgängiges Mobilitätskonzept brauchen. Deshalb rege ich an, die Verkehrsverträge dahingehend weiterzuentwickeln, dass zukünftig ganzheitliche Mobilitätsleistungen vergeben werden und nicht nur der Betrieb auf der Schiene.


Ein Blick in die Niederlande zeigt, wie das gehen könnte: Da definiert der Auftraggeber einen Verkehrsraum und ein Budget, das jährlich mit einem festen Prozentsatz indexiert wird. In der Ausschreibung sind die Unternehmen dann eingeladen, das beste Mobilitätsangebot für diesen Verkehrsraum zu definieren. Bezuschlagt wird dann das Angebot, das die höchste Qualität für den gesetzten Preis bietet. Das ist ein hoch effizientes System, welches über einen Vergabezeitraum von zehn Jahren drei Mal evaluiert und angepasst werden kann.


Was spricht in Deutschland dagegen, einen Verkehrsraum zu definieren und dort Mobilität aus einem Guss zu entwickeln, die sich mit Ergänzungsangeboten wie Car-Sharing, Fahrrädern oder E-Rollern ganzheitlich vermarkten lässt? Das ist aus meiner Sicht längst überfällig, scheitert aber noch an den begrenzten Zuständigkeiten. Die Politik muss hier den Mut finden, die Zuständigkeiten der Aufgabenträger für die gesamte Mobilität zu definieren. Sonst kommt die Mobilitätswende nicht weiter voran.


Gemeinsam bestmögliche Lösungen im Sinne der Fahrgäste zu entwickeln, ist das zentrale Commitment der Gemeinschaftsinitiative Fokus Bahn NRW. Welchen Rat geben Sie uns mit auf den Weg?


Dr. Heinemann: Fokus Bahn NRW macht die Probleme im SPNV sichtbar und hat bereits sehr viel bewegt. Hervorzuheben sind sicher die erfolgreichen Kampagnen und Qualifizierungsmaßnahmen gegen den Fachkräftemangel. Jetzt, da Nordrhein-Westfalen gerade gewählt hat, ergibt sich die große Chance, die öffentliche Mobilität neu zu denken, Zuständigkeiten dafür neu zu definieren und die Verkehrsverträge entsprechend zu gestalten. Diese Chance sollte nicht vertan werden.