Was kostet die Klimawende im öffentlichen Verkehr?

Die untergehende Sonne scheint auf die Schienen

Klima

13. April 2022

Im Gespräch mit Alexander Möller, Senior Partner im Bereich Transportation bei Roland Berger

In einem Zielbildprozess definieren die Akteur/innen von Fokus Bahn notwendige Rahmenbedingungen für eine zukunftssichere Mobilität. Mit seinem Impulsvortrag zum dritten Workshop initiierte Alexander Möller, Senior Partner im Bereich Transportation von Roland Berger, eine breite Diskussion über die Umsetzung der Klimawende und die Rahmenbedingungen für den Qualitätswettbewerb im SPNV. Möllers zentrale Botschaft: Öffentliche Mobilität muss integriert gedacht werden.


Rund 48 Milliarden Euro brauchen die Verkehrsunternehmen in Deutschland an zusätzlichen Mitteln zur Gestaltung der Klimawende bis einschließlich 2030. Diese Summe hat das Beratungsunternehmen Roland Berger in einem mit Intraplan gemeinsam erstellten Leistungskostengutachten ermittelt, das im Auftrag des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) im Sommer 2021 erstellt wurde. Auf Basis dieses Gutachtens formulierte Alexander Möller – ehemaliger Manager der Deutschen Bahn, bis 2018 ADAC-Geschäftsführer und heute Berater für die Mobilitätsbranche bei Roland Berger – im dritten Fokus-Bahn-Workshop Thesen zu einem Neustart im SPNV. Im anschließenden Hintergrundgespräch erläutert er, warum öffentliche Mobilität neu gedacht und die klassische Finanzierungslogik sowie etablierte Strukturen hinterfragt werden müssen.


Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden und die CO2-Emissionen im Verkehrssektor schon bis 2030 auf höchstens 85 Millionen Tonnen1 reduzieren. Was bedeuten diese Zielvorgaben für die öffentliche Mobilität und für die Bahnbranche?


Alexander Möller: Sie setzen eine realisierte Angebotsoffensive der öffentlichen und geteilten Mobilität voraus. Diese zusätzlichen Angebote müssen in Strecken und Taktung den Bedürfnissen der heutigen und der potentiellen Kund/innen entsprechen. Sie müssen außerdem verlässlich sein und einen gewissen Komfort haben. Der SPNV ist das Rückgrat dieser Offensive. Wir sehen fast 25 Prozent mehr Leistungen im SPNV bis einschließlich 2030, damit das Ziel des Modal Shift zur Mobilitätswende gelingt.


„Was kostet die Klimawende im öffentlichen Verkehr?“, titelte der dritte Workshop im Zielbildprozess von Fokus Bahn NRW. Sie haben im Leistungskostengutachten eine Summe von 48 Milliarden Euro ermittelt. Welche Bedarfe stehen ganz konkret hinter dieser Summe? Und woher sollen diese Mittel kommen?


Alexander Möller: Die 48 Milliarden Euro ergeben sich aus der Differenz zwischen den geplanten Angeboten des ÖPNV insgesamt und den bereits zugesicherte Finanzierungen, z.B. aus dem Regionalisierungsgesetz des Bundes für die Bundesländer. Wir prognostizieren etwa 90.000 zusätzliche Fahrzeuge und 100.000 zusätzliche Beschäftigte. Wenn wir uns die allgemeine Kostensteigerung und die aktuell stark steigende Kostenentwicklung aus Unternehmenssicht angucken, dann sind die 48 Milliarden Euro präzise gerechnet und natürlich eine große Summe. Aber wir sprechen über die Dekarbonisierung der Mobilität. Das ist eine Industrielle Revolution 5.0. Diese Investitionen in die künftigen Leistungen können erbracht werden aus den unterschiedlichen Haushalten des Bundes, der Bundesländer und der Kommunen. Dabei kommt es auf eine neue Finanzierungslogik an.


Portrait von Alexander Möller, Senior Partner im Bereich Transportation von Roland Berger Quote

Wer den Modal Shift erreichen will, muss die Kund/innen konsequent in den Mittelpunkt stellen und Produktion sowie Prozesse der Dienstleistung SPNV darauf ausrichten.

Alexander Möller

Senior Partner im Bereich Transportation bei Roland Berger

In Sachen Verkehrswende setzt die Bundesregierung auf Elektromobilität und günstigere Ticketpreise im ÖPNV. Ist das 9-Euro-Ticket bzw. der Hebel an den Ticketpreisen angesichts einer ohnehin kritischen Finanzierung von Betrieb und Leistung im öffentlichen Verkehr eine sinnvolle Lösung?


Alexander Möller: Wir beobachten in den letzten Jahren Preismaßnahmen in den Verkehrsverbünden, die sich weniger an den wirtschaftlichen Bedarfen der Verkehrsunternehmen orientieren als an dem politischen Ziel, dass neue Kunden durch günstigere Preise gewonnen werden können. Auch das führt zu den identifizierten 48 Milliarden Euro.


Bis zur Coronakrise konnte der öffentliche Verkehr auf der Schiene jedes Jahr deutliche Fahrgastzuwächse verbuchen. Dennoch stagniert beispielsweise der Anteil des Schienenpersonenverkehrs – Eisenbahnen und S-Bahnen eingeschlossen – am Modal Split schon seit Jahren bei rund 8,5 bzw. 8,7 Prozent2. Wie kann sich der SPNV als Treiber einer klimaschützenden Dekarbonisierung der Mobilität gegenüber dem motorisierten Individualverkehr besser positionieren – und wie kann er mehr Menschen zum Umstieg bewegen?


Alexander Möller: Das ist die Gretchenfrage, die in den Mittelpunkt jeder Diskussion um die Zukunft des SPNV in NRW gehört. Wir sehen massive Anstrengungen der Unternehmen und eine Bereitschaft der Aufgabenträger, neu nachzudenken. Vielleicht ist es wichtig, die Wertschöpfungskette insgesamt zu betrachten: mehr ausbilden, mehr Beschäftigte an Bahnhöfen und in die Züge, mehr Information und Abstimmung bei Erhalt und Neubau der Infrastruktur sowie Produktvorteile des Individualverkehrs reduzieren durch integrierte Angebote.


Der Wettbewerb im SPNV galt lange als Schlüssel zu mehr Effizienz, Kundenorientierung und Innovation. Fahrgäste kritisieren allerdings eine Zunahme von Verspätungen und Verbindungsausfällen, unzureichende bzw. fehlende Anschlussverbindungen in der Fläche und nicht zuletzt auch zu viele unterschiedliche Verantwortlichkeiten für die öffentliche Mobilität. Wie kann eine erfolgreiche Angebotsoffensive gelingen?


Alexander Möller: In der Frage liegt die Antwort. Verspätungen und Ausfälle sind zurückzuführen auf Herausforderungen auf dem Netz sowie auf Krankenquoten und Fahrzeugausfälle. Nehmen wir das Netz: Es gibt ein breites Verständnis für die Notwendigkeit Netzerhalt und Netzausbau. Das bedeutet Baustellen, also Sperrungen und Umfahrungen. Wer die Ertüchtigung des Netzes will, kann das nicht anders wollen. Aber es geht um frühzeitige Informationen, Abstimmungen und funktionierende Schienenersatzverkehre, insbesondere durch Integration der Angebote. Und aus Sicht der SPNV-Unternehmen geht es natürlich um die Pönalen, die sie für Ausfälle und Verspätungen zahlen, obwohl sie betrieblich nicht verantwortlich sind.


Gemeinsam bestmögliche Lösungen im Sinne der Fahrgäste zu entwickeln, ist das zentrale Commitment der Gemeinschaftsinitiative Fokus Bahn NRW. Welchen Rat geben Sie uns mit auf den Weg?


Alexander Möller: Ich kann nur durch meine operative und beratende Erfahrung Beobachtungen teilen. Wer den Modal Shift erreichen will, muss die Kund/innen konsequent in den Mittelpunkt stellen und Produktion sowie Prozesse der Dienstleistung SPNV darauf ausrichten. Das gilt für die Kriterien der Vergabe der Leistungen. Hier muss es um Preis, Qualität und Innovationen gehen. Das gilt für die Leistungen selbst: Ist der Bruttovertrag der richtige Anreiz für Unternehmen? Wie gut sind die SPNV-Leistungen integriert in Angebote auf der Straße, also Bus und On Demand? Haben wir die richtigen Boni- und Pönale-Regelungen? Und schließlich gilt das für den gesamten Bereich Vertrieb, Ticketing und Information. Nach den vorliegenden Umfragen sind die Preise der Tickets nicht der Grund dafür den ÖPNV nicht oder nur sehr begrenzt zu nutzen. Sondern es geht um Verlässlichkeit, Komplexität des Zugangs und die Sicherheit im öffentlichen Raum. Daran ist gerade am wichtigen Rückgrat der öffentlichen Mobilität, dem SPNV, zu arbeiten.


Quellen:


1 Umweltbundesamt
2 Allianz Pro Schiene