Wie kann der SPNV die Mobilitätswende voranbringen?
Programm
12. August 2022
Im Gespräch mit Professorin Dr. Meike Jipp, Direktorin des Instituts für Verkehrsforschung am DLR
Der klimagerechte Umbau der Mobilität gilt gemeinhin als Aufgabe von SPNV und ÖPNV – und die Politik strebt für die nächsten acht Jahre eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen an. Doch der Anteil des SPNV am Modal Split stagniert seit Jahren bei 8,7 Prozent. Wie der SPNV die Mobilitätswende voranbringen und Menschen zum Umstieg bewegen könnte, erörtert die Psychologin Prof. Dr. Meike Jipp, Direktorin des Instituts für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR), im Interview mit Fokus Bahn NRW.
In der gesellschaftspolitischen Wahrnehmung gilt der SPNV als Rückgrat zukünftiger Mobilität. Nach wie vor aber fahren die meisten Menschen lieber Auto statt Bahn. Wie erklärt sich diese Diskrepanz?
Prof. Dr. Meike Jipp: Das ist die ganz menschliche Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten. Die persönliche Einstellung tendiert durchaus in Richtung ÖPNV und Mobilität im Umweltverbund. Wir wissen inzwischen ja, dass die Antriebswende helfen, aber nicht ausreichen wird, um die gesetzten Klimaschutzziele zu erreichen. Das persönliche Mobilitätsverhalten allerdings basiert auf Routine. Wer seit zehn Jahren tagtäglich gut mit dem Auto zur Arbeit fährt, gibt diese Routine nicht grundlos auf, denkt also gar nicht über Mobilitätsalternativen bzw. Verhaltensänderungen nach. Dass der Anteil des SPNV am Modal Split seit Jahren stagniert, spiegelt die eingefahrenen Routinen in der Nutzung von Verkehrsmitteln wider. Für eine erfolgreiche Mobilitätswende müssen diese Routinen aufgebrochen werden. Wir brauchen ein verändertes menschliches Mobilitätsverhalten, um die Klimaschutzziele zu erreichen.
Mit Mobility-as-a-Service gewinnen Sharing-Modelle, On-Demand-Verkehre und viele weitere flexibel nutzbare, digital vernetzte Mobilitätsangebote für Nahverkehrskund/innen und -unternehmen an Bedeutung. Ist das der Einstieg in die Mobilitätswende?
Prof. Dr. Meike Jipp: Der öffentliche Verkehr muss leistungsfähig, zuverlässig und dabei geografisch sowie zeitlich für die Menschen verfügbar sein. Das ist die Grundanforderung, die überhaupt erst Nutzungsakzeptanz schafft. Als flexible Zubringer auf kurzen Distanzen stellen Mobility-as-a-Service-Angebote sicher eine sinnvolle Ergänzung zum ÖPNV dar. Bei begleitenden Untersuchungen zu On-Demand-Verkehren in der Region Stuttgart haben wir allerdings festgestellt, dass die Nutzungsakzeptanz fällt, sobald die Fahrgäste pünktlich zu Terminen müssen. Da entsteht Unruhe, wenn das On-Demand-Shuttle einen Umweg fährt, um andere Mitfahrer/innen abzuholen. Menschen wollen Routinen und damit pünktliche Abfahrtszeiten sowie verlässlich planbare Fahrtwege. Berufstätige wollen nicht jeden Tag schauen müssen, ob sie gerade ein On-Demand-Shuttle oder ein Sharing-Auto für den Weg zum Bahnhof bekommen. Das muss zuverlässig funktionieren, sonst ändert sich das Mobilitätsverhalten nicht. Darüber hinaus muss eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln attraktiver werden als die Fahrt mit dem eigenen Auto.
Die persönliche Einstellung tendiert durchaus in Richtung ÖPNV und Mobilität im Umweltverbund. Das persönliche Mobilitätsverhalten allerdings basiert auf Routine. Wer seit zehn Jahren tagtäglich gut mit dem Auto zur Arbeit fährt, gibt diese Routine nicht grundlos auf.
Professorin Dr. Meike Jipp
Direktorin des Instituts für Verkehrsforschung am DLR
Was heißt das konkret?
Prof. Dr. Meike Jipp: Der Öffentliche Verkehr muss zunächst ein adäquates Angebot stellen. Unsere Analysen haben gezeigt, dass Berufspendler/innen mit dem Auto zumeist dreimal schneller zur Arbeit kommen als mit Bus und Bahn. Faktor drei ist im Alltag zu viel. Den persönlichen Zeitverlust bemerkt man sofort, die Emissionen aus dem Auspuff nicht. Hier muss der ÖPNV ansetzen, in dem er geografisch und zeitlich zuverlässiger sowie besser verfügbar wird. Er muss dort ausgebaut werden, wo eine hohe Nachfrage besteht – mit sehr guten Umstiegsbeziehungen und attraktiven Knotenpunkten, an denen sich Wartezeiten beispielsweise für Einkäufe nutzen lassen. Das schafft positive Nutzungserfahrungen. Darüber hinaus muss der Öffentliche Verkehr Mobility-as-a-Service noch weiterdenken und Vorteile bieten, die es im eigenen Auto nicht gibt. Wie wäre es mit Massagesitzen im Bus? Oder Ruheräumen in der Regionalbahn? Oder Gesellschaftsabteilen in der S-Bahn, wo man auf dem Heimweg nette Leute trifft? Natürlich muss man zuvor untersuchen, welche Services passen und was sie kosten dürfen. Wichtig ist, dass der ÖPNV Nutzungserfahrungen schafft, die bestehende Routinen verändern können.
Die Gemeinschaftsinitiative Fokus Bahn NRW diskutiert in einem breit angelegten Zielbildprozess die Voraussetzungen für die Mobilitätswende. Gemeinsam bestmögliche Lösungen im Sinne der Fahrgäste zu entwickeln, ist das zentrale Commitment. Welchen Rat geben Sie uns mit auf den Weg?
Prof. Dr. Meike Jipp: Das 9-Euro-Ticket hatte einen großen Vorteil – es hat die ÖPNV-Nutzung für viele Menschen deutlich vereinfacht. Diesen Ansatz sollte Fokus Bahn NRW für den Verkehr auf der Schiene und idealerweise für den gesamten ÖPNV weiter verfolgen – und dabei den Fokus nicht nur auf die aktuellen, sondern vor allem auch auf zukünftige Kund/innen richten. Der Schlüssel zur Mobilitätswende liegt in der positiven Nutzungserfahrung zukünftiger ÖPNV-Kund/innen. Wer ohne spezifisches Nutzungswissen zum ersten Mal mit der Bahn fährt, braucht leicht zugängliche Informationen für die gesamte Reisekette und während der gesamten Fahrt. Die zunehmende Digitalisierung schafft hier neue Möglichkeiten. Beispielsweise könnten persönliche Service-Chats unsichere Fahrgäste begleiten. Nur wer den ÖPNV mit einer positiven Nutzungserfahrung verbindet, ändert auch langfristig sein Mobilitätsverhalten.
Die Coronakrise hat die Fahrgastzahlen einbrechen lassen, das 9-Euro-Ticket bringt eine neue, nie dagewesene Auslastung. Ist der Ticketpreis ein Hebel, um Menschen zum Umstieg auf die Schiene zu bewegen?
Prof. Dr. Meike Jipp: In der Pandemie haben sich viele Routinen verändert, gerade im Bereich der Mobilität. Die Optionen zur ÖPNV-Nutzung haben sich verschlechtert und der Individualverkehr ist gerade für Berufspendler/innen wieder attraktiver geworden. Hier haben sich in rund 1,5 Jahren neue Routinen aufgebaut, die wahrscheinlich nicht mehr so schnell zurückkippen werden – auch nicht nach drei Monaten 9-Euro-Ticket. Das günstige Ticket stößt aktuell zwar auf eine hohe Nutzungsakzeptanz. Wir werten zurzeit aber eine eigene Studie aus, die uns vermuten lässt, dass es zusätzlich darauf ankommen wird, stärker in Infrastruktur und Verkehrsangebote zu investieren. Damit können dann etablierte Routinen aufgebrochen und eine dauerhafte Akzeptanz für ein neues Mobilitätsverhalten etabliert werden. Ein engmaschiges, belastbares Netz, zuverlässige Verbindungen mit hohen Taktfrequenzen und ausreichend Sitzplätze in den Zügen stellen ein notwendiges Minimum dar, damit mehr Menschen den öffentlichen Verkehr auch langfristig nutzen.