Verkehrsverträge müssen reaktionsfähiger werden

Panorama eines Bahnsteigs, an dem Züge links und rechts vorbeifahren.

Zukunft Wettbewerb

17. Mai 2023

Wie der SPNV NRW zukünftigen Marktentwicklungen begegnen will

Nils Werner leitet das neue Projekt “Fokus Zukunft Wettbewerb”. Im Interview beschreibt er die Herausforderungen zukünftiger SPNV-Vergabeverfahren in krisengeprägten Zeiten und erörtert die Chancen der Mobilitätswende.


Pandemie, Energiekrise, Klimawandel und Fachkräftemangel: Wie kann der SPNV den gesellschaftlichen Krisen der jüngsten Zeit begegnen? Und wie lässt sich die Mobilitätswende unter den gegebenen Rahmenbedingungen umsetzen? Diese Fragen bewegten die Akteure von Fokus Bahn NRW im Herbst 2022 zur Auflage des Projekts“ „Fokus Zukunft Wettbewerb“. Projektleiter Nils Werner, Leiter des Vertragsmanagements beim Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL), beschreibt, wie der SPNV NRW auch bei rasanten Marktveränderungen erfolgreich agieren kann.


Sie haben die Leitung des neuen Projekts „Fokus Zukunft Wettbewerb“ übernommen. Worum geht es in diesem Projekt genau?


Nils Werner: Mit dem Fokus-Bahn-Projekt setzen wir zum einen das Projekt „Verkehrsvertrag 2.0“ fort. Bereits 2020/2021 hatten wir, die drei Aufgabenträger und die Nahverkehrsbahnen in NRW, intensive Gespräche über eine Neugestaltung der bisherigen Verkehrsverträge geführt. Mit dem Projekt „Verkehrsvertrag 2.0“ haben wir gemeinsam vertragliche Anpassungen erarbeitet, um die Fortführung geschlossener Verkehrsverträge und die Erbringung vereinbarter Verkehrsleistungen langfristig zu sichern.


Die Turbulenzen rund um den Marktaustritt Abellios haben dann noch einmal deutlich gemacht, dass die aktuellen Herausforderungen im Nahverkehrsmarkt NRW nach wirtschaftlich und vertraglich tragbaren Lösungen verlangen. Wir erleben gerade Veränderungen im Marktumfeld des SPNV, die sich zunächst durch die Pandemie und jetzt durch die Energiekrise enorm beschleunigt haben. Wir müssen auf solche Marktentwicklungen schnell, passgenau und pragmatisch reagieren können und dafür müssen Verkehrsverträge reaktionsfähiger werden.


Wo sehen Sie da mögliche Stellhebel?


Nils Werner: Stellhebel sehe ich zunächst in den Bereichen Personalentwicklung, verkehrliche Auswirkungen durch Baumaßnahmen und Minderungen aufgrund extern verursachter Störungen im Bahnbetrieb. Diese Punkte haben wir im Projekt „Verkehrsvertrag 2.0“ bereits bearbeitet und können heute zum Beispiel mit einem eigenen SPNV-Personalkostenindex, der über den Bundesverband Schienennahverkehr mit der ganzen Branche und für die ganze Branche entwickelt wurde, Veränderungen der Personalkosten deutlich passgenauer abbilden und auch Personalreserven definieren.


Darüber hinaus werden die Themenfelder, die für zukünftige Vergabeverfahren und Vertragsgestaltungen relevant sind, in den Projekten von Fokus Bahn NRW umfangreich bearbeitet. Im Projekt „Fokus Fahrgast“ zum Beispiel werden bereits sehr wirksame Maßnahmen für die Organisation und die Kommunikation von Baustellenverkehren umgesetzt. Die dabei notwendige unternehmensübergreifende Zusammenarbeit muss selbstverständlich in den Verkehrsverträgen verankert werden. Das gilt ebenso für das gemeinsame Engagement der Nahverkehrsbahnen gegen den Fachkräftemangel mit gemeinsamen Recruiting- und Qualifizierungsformaten im Projekt „Fokus Attraktive Arbeitgeber“. Hier gilt es Branchenstandards zu entwickeln und fortzuschreiben, die in entsprechenden vertraglichen Regelungen auch in abgeschlossenen Verträgen Anwendung finden können.


Portrait von Nils Werner (Nahverkehr Westfalen-Lippe) Quote

Jenseits rechtssicherer Verträge, unternehmerischer Risiken und finanzieller Spielräume im SPNV geht es um die Rahmenbedingungen einer erfolgreichen Verkehrs- und Mobilitätswende.

Nils Werner

Projektleiter „Fokus Zukunft Wettbewerb“

Nun titelt das Projekt Fokus Zukunft Wettbewerb. Es geht also um mehr als Verkehrsverträge?


Nils Werner: Richtig. Verkehrsverträge sind ein wichtiges Instrument zur Gestaltung der Verkehrswende – und darum geht es uns im neuen Fokus-Bahn-Projekt. Wie können wir die Verkehrswende gestalten, wenn sich die Rahmenbedingungen ständig verändern? Den exponentiellen Anstieg der Energiekosten infolge des Ukraine-Kriegs konnten wir vor zwei Jahren nicht im Ansatz erahnen. Politische Instrumente wie die Strompreisbremse oder das Deutschlandticket sind gänzlich neu. Wir brauchen für diese und weitere Entwicklungen im SPNV ein neues Risikomanagement, das den Wettbewerb um die bestmögliche Angebotsqualität auf der Schiene trägt und sichert.


Stichwort Deutschlandticket: Inwieweit hat die neue Ticket-Flatrate Auswirkungen auf die Projektarbeit?


Nils Werner: Das Deutschlandticket kann ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Mobilitätswende sein. Im SPNV Nordrhein-Westfalens wird es vermutlich aber keine so großen Auswirkungen auf das operative Geschäft haben. Die meisten Studien prognostizieren keinen so großen Fahrgastanstieg wie in den drei Monaten des 9-Euro-Tickets. Um derartige Zuwächse aufzufangen, benötigen wir allerdings auch weitere Kapazitäten. Und da sind wir bei einer Kernfrage, die unsere Projektarbeit trifft: Denn wenn das Deutschlandticket nicht langfristig eingeführt bzw. finanziert wird, werden finanzielle Ressourcen im System noch knapper als sie es heute ohnehin schon sind. Das hat Einfluss auf attraktive Verkehrsverträge und kann die Verkehrswende hemmen.


Die Aufgabenträger in NRW haben bereits davor gewarnt, Leistungen zurückfahren zu müssen. Was bedeutet das?


Nils Werner: Gerade in der Diskussion um das Deutschlandticket und die gewünschte Mobilitätswende müssen wir die Zahlen zu den Kosten, die sich anhand der politischen Zielbilder ableiten lassen, auf den Tisch legen und ernst nehmen. Dabei hat sich die Situation mit den aktuellen Preisentwicklungen für Personal und Energie noch einmal erheblich verschärft, sodass wir in eine Lage geraten könnten, in der wir uns gezwungen sehen, Verkehrswende ins Gegenteil zu verkehren und aus Mittelknappheit Kosten durch Abbestellungen einzusparen.


Das Land Nordrhein-Westfalen hat zunächst die Sicherung der bestehenden Verkehre in Aussicht gestellt. Verkehrswende auf der Schiene bedeutet aber, auch zur Erreichung der diversen politischen Ziele, einen Ausbau des Systems – mit Investitionen sowohl infrastrukturell als auch kapazitativ. Den Plan, wie Verkehrswende in NRW auf der Schiene aussehen kann, haben die Aufgabenträger und das Land NRW mit dem KC ITF über die Zielnetze für 2032 und 2040 gemeinsam erarbeitet. Zur Umsetzung dieser Vision brauchen wir möglichst bald langfristige Planungssicherheit, auch von Seiten des Bundes. Denn die Weichen für die Umsetzung der Konzepte müssen in der Gegenwart gestellt werden. Infrastrukturausbau und Fahrzeuginvestitionen müssen heute getätigt oder angelegt werden, um rechtzeitig in die Umsetzung zu kommen.


Wie steht es um die aktuellen Planungen im Projekt Fokus Zukunft Wettbewerb?


Nils Werner: Aktuell planen wir gemeinsame Workshops mit Aufgabenträgern und Eisenbahnverkehrsunternehmen, an denen auch Vertreter des Landes NRW teilnehmen werden. Hier werden wir u.a. neue Instrumente der Vertragsgestaltung vorstellen und über Szenarien für zukunftssichere SPNV-Leistungen diskutieren. Jenseits rechtssicherer Verträge, unternehmerischer Risiken und finanzieller Spielräume im SPNV geht es um die Rahmenbedingungen einer erfolgreichen Verkehrs- und Mobilitätswende. Attraktive öffentliche Mobilität beschränkt sich ja nicht auf die Schiene, sondern beinhaltet inter- und multimodale Angebote, die möglichst mit einer App gebucht und genutzt werden können. Unser Projekt Fokus Zukunft Wettbewerb orientiert sich also auch am Landesprogramm MaaS NRW und der Idee von Mobility as a Service. Wenn wir auf die Zukunft des Wettbewerbs fokussieren, müssen wir über das System Schiene hinausdenken.