„Wir brauchen im System Bahn mehr Teamwork und mehr Fachkräfte“

Ansicht eines Mannes von hinten, der vor vielen Bildschirmen an einem Schreibtisch sitzt. Auf den Bildschirmen sind diverse Tabellen, Grafiken und weiteres zu sehen.

Arbeitgeber

30. September 2021

Sven Breckenfelder, Leiter Disposition bei Keolis Deutschland, über die tägliche Arbeit in der SPNV-Regiezentrale, den Fachkräftemangel und die besonderen Herausforderungen des SPNV-Marktes in Nordrhein-Westfalen.


Die Verkehrswende wird ein echter Kraftakt, den nicht zuletzt die Mitarbeiter/innen der Bahnunternehmen zu stemmen haben. „Das schaffen wir nur im Miteinander der Branche“, meint Sven Breckenfelder, Leiter Disposition bei Keolis Deutschland. Nach mehr als 25 Jahren in der Bahnbranche, bringt er seine umfangreiche Berufserfahrung heute in den Ausbau der SPNV-Regiezentrale NRW ein. Im Gespräch mit Fokus Bahn NRW beschreibt er die alltäglichen Herausforderungen im Eisenbahnbetrieb, die unter anderem dem wachsenden Mangel an Fachkräften, den knappen Kapazitäten im Netz und der rasanten Marktentwicklung im NRW-SPNV geschuldet sind.


Die SPNV-Regiezentrale NRW ist ein Vorläuferprojekt von Fokus Bahn NRW und gehört heute zu den Kernprojekten der Brancheninitiative. Was hat das Projekt aus Ihrer Sicht bislang bewegt?


Breckenfelder: Was die Entwicklung eines Verständnisses von gemeinsamer Disposition angeht, stehen wir noch am Anfang. Es ist wichtig, dass die Geschäftsführungen die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit kontinuierlich und noch stärker forcieren. Schließlich liegen im Miteinander der Bahnbranche viele Chancen. Das zeigt der Ansatz der gemeinsamen Disposition in der SPNV-Regiezentrale NRW schon sehr deutlich. In den vergangenen Jahren und Monaten erleben wir ja immer wieder, wie oft und in welchem Umfang der Schienenpersonennahverkehr auf Störfälle reagieren muss – seien es geplante Baumaßnahmen, kleine alltägliche Zwischenfälle oder große unvorhergesehene Ereignisse wie die Flutschäden. Unsere Fahrgäste brauchen dann bei den Ersatzverkehren keine kleinteiligen Insellösungen, die jedes Unternehmen für sich einzeln durchführt, sondern gesamtheitlich sinnvolle Verkehrskonzepte. Und die schaffen wir nur durch gut eingespieltes Teamwork, also durch eine gemeinsame Disposition in der SPNV-Regiezentrale. Dazu gehören dann auch gemeinsame Konzepte für Schienenersatz- und für Busnotverkehre.


Wo liegen die größten Herausforderungen in der täglichen Disposition?


Breckenfelder: Der Anpassungsrhythmus ist außerordentlich schnell. Wir müssen unsere Verkehre immer wieder neu planen unsere Eurobahn-Linien im Maas-Rhein-Lippe-Netz zum Beispiel konnten wir im vergangenen Jahr nur an 18 Tagen nach dem ursprünglichen Regelfahrplan bedienen. Der Hauptgrund dafür sind die umfangreichen Baumaßnahmen im Netz. Es wird einfach zu viel gebaut. Klar muss das sein, damit wir in 15 bis 20 Jahren unser leistungsstarkes Wunschnetz haben. Aber für die Eisenbahnverkehrsunternehmen ist das ein echter Kraftakt, ein harter und manchmal auch schwer kalkulierbarer Weg. Wir haben dadurch aktuell auch keine Spielräume für weitere Qualitätsverbesserungen. Denn sobald Fehler erkannt sind und behoben werden könnten, müssen wir den Fahrplan aufgrund von Baumaßnahmen wieder ändern. Dieses Problem haben wir nicht nur bei Keolis. Es trifft alle Unternehmen, die im SPNV Nordrhein-Westfalens Leistungen erbringen. Genau deshalb wurde die gemeinsame SPNV-Regiezentrale in Duisburg ja auch eingerichtet.


Portrait von Sven Breckenfelder, Leiter Disposition bei Keolis Deutschland Quote

Durch ihre Kooperation entwickeln die Eisenbahnverkehrsunternehmen belastbare Verkehrslösungen und schaffen neue Qualitäten.

Sven Breckenfelder

Leiter Disposition bei Keolis Deutschland

Welche Hürden muss die gemeinsame Disposition überwinden? Wo stößt die Zusammenarbeit in der SPNV-Regiezentrale NRW an Grenzen?


Breckenfelder: Die Zusammenarbeit der Unternehmen unterliegt den Anforderungen eines extrem ausgelasteten Netzes und den Regeln des SPNV-Marktes in Nordrhein-Westfalen. Dieser Markt ist total komplex. Zum einen leben wir hier im größten Ballungsraum Europas. Die Takte sind dicht. Es gibt keine Lücken im Fahrplan und keine Ausweichstrecken. Ob bei Baumaßnahmen oder bei unvorhergesehenen Störungen im Betriebsablauf – wir haben keine Trassen frei, um beispielsweise Umleitungen schnell und zügig zu organisieren. Und dann fehlt für gemeinsame Dispositionsentscheidungen eine wichtige Voraussetzung, nämlich ein gemeinsames unternehmensübergreifendes Budget oder ein System, das die Kosten für diese Entscheidungen regelt. Die Unternehmen müssen nach den Vorgaben und Pönaleregeln der Verkehrsverträge arbeiten. Im Alltag ist es dann so, dass bei Störungen erst einmal kein Partner einen Zugausfall auf seiner eigenen Linie befürworten will. Aber gerade dieser eine Zugausfall kann die nötigen Kapazitäten für eine vernünftige Verkehrslösung schaffen und am Ende dafür sorgen, dass nicht vier, sondern nur zwei Züge von der Störung betroffen sind. Durch die gemeinsame Arbeit in der SPNV-Regiezentrale konnten wir in jüngster Zeit die unternehmensübergreifenden Planungen in dieser Hinsicht schon deutlich verbessern, aber das lässt sich noch weiter optimieren.


Nun steht das Schienennetz Nordrhein-Westfalens vor einem Jahrzehnt der Baustellen. Was bedeutet das für die Zukunft der Eisenbahnverkehrsunternehmen?


Breckenfelder: Grundsätzlich ist der SPNV in Nordrhein-Westfalen ein Zukunftsmarkt. Das Schienennetz wird ausgebaut und modernisiert wie nie zuvor. Die Menschen wollen die Verkehrswende. Aber – wie schon gesagt – für die Unternehmen ist der Weg zum Ziel nicht leicht und durch Marktumbrüche belastet. Durch ihre Kooperation entwickeln die Eisenbahnverkehrsunternehmen belastbare Verkehrslösungen und schaffen neue Qualitäten. Dazu gehören beispielsweise auch neue, digitale Tools für die Disposition. Ein weiteres, gravierendes Problem sind allerdings die fehlenden personellen Ressourcen, um den aktuellen Herausforderungen zu begegnen und den Verkehrszuwachs gestalten zu können. Der Fachkräftemangel trifft nicht nur die Lokführer/innen. Gerade auch in der Disposition suchen wir qualifizierte Mitarbeiter/innen. Die Organisation von Baustellenfahrplänen, von Schienenersatz- und Busnotverkehren muss mit ausreichend Personal hinterlegt sein. Insgesamt brauchen wir im System Bahn einfach noch mehr Fachkräfte, wenn wir all diese Aufgaben stemmen wollen.


Inzwischen leiden ja auch die Fahrgäste unter dem Fachkräftemangel, nicht nur wenn Züge ausfallen, weil Lokführer/innen erkrankt sind. Das gleiche gilt auch für die Disposition und für viele andere Bereiche. So kommt es zu den unterschiedlichsten Verzögerungen und Störungen im Betriebsablauf. Mit Blick auf Pandemien, Grippewellen oder auch auf die zunehmenden Unwetter mit langfristigen Schäden im Schienennetz brauchen die Eisenbahnverkehrsunternehmen mehr Personalreserven. Diese könnten beispielsweise durch eine unternehmensübergreifende SPNV-Einsatztruppe gebildet werden. Die Zusammenarbeit in der SPNV-Regiezentrale NRW ist dafür durchaus ein Vorbild.


Inwieweit haben Fachkräfte im SPNV Nordrhein-Westfalens mit Blick auf die beschriebenen Marktumbrüche eine sichere berufliche Zukunft?


Breckenfelder: Eine berufliche Zukunft in der Bahnbranche ist immer sicher. Die Kooperation der Unternehmen im SPNV Nordrhein-Westfalens bietet Sicherheit und schafft neue Qualitäten, weil das Angebot immer mehr ganzheitlich und vom Fahrgast aus gedacht wird. Gleichzeitig bietet die Vielfalt der Unternehmen jedem einzelnen Mitarbeitenden berufliche Perspektiven, Möglichkeiten zur Weiterentwicklung und Karrierechancen. Es gibt viele Kolleg/innen, die ihre Arbeitgeber wechseln und später auch zu ihrem ersten Unternehmen zurückgehen. Ich selbst bin schon seit 25 Jahren in der Branche. Nach meiner Ausbildung als Eisenbahner im Betriebsdienst bei DB Regio bin ich heute Leiter der Disposition bei Keolis. Das war eigentlich immer mein Ziel. Lösungen für Probleme zu finden und diese dann monitoren – das macht den Beruf des Disponenten für mich so interessant. In der Leitstelle kann ich Qualitätsstandards im SPNV mit entwickeln und so die Verkehrswende vorantreiben.