Das Kriminalitätsfurcht-Paradox im SPNV

Zwei Männer in gelben Sicherheitswesten laufen an einem Bahnsteig entlang, an dem ein Zug steht.

Sicherheit

06. Juni 2023

Warum die Sicherheit im Empfinden der Fahrgäste liegt und wie sich das Sicherheitsgefühl stärken lässt

Gina Rosa Wollinger, Professorin für Kriminologie und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, erklärt Faktoren für die gefühlte Unsicherheit von Menschen im SPNV und Ansätze zur Prävention.


Mit Sorge beobachten die Nahverkehrsbahnen in NRW eine zunehmende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft. Für viele Menschen ist dies ein Grund, den SPNV zu meiden; für sie sind gerade Bahnen und Bahnhöfe unsichere Orte. Doch das gefühlte Unsicherheitsempfinden und die reale Sicherheitslage gehen oft auseinander, weiß Gina Rosa Wollinger, Professorin für Kriminologie und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW in Köln. Im Interview mit Fokus Bahn NRW beschreibt sie das Kriminalitätsfurcht-Paradox sowie Möglichkeiten, das Sicherheitsgefühl von Fahrgästen zu stärken und echten Gefährdungen präventiv zu begegnen.


Die Sicherheitslage im SPNV Nordrhein-Westfalens ist seit vielen Jahren stabil, trotzdem fühlen sich viele Menschen dort unsicher. Woran liegt das?


Prof. Wollinger: In der Kriminalforschung ist es ein gesicherter Befund, dass die gefühlte Unsicherheit und die objektive Sicherheitslage sehr häufig voneinander abweichen. Denn das subjektive Sicherheitsempfinden von Menschen wird nicht durch gemessene Daten, sondern durch eine Vielzahl verschiedener Faktoren beeinflusst. Aktuell zum Beispiel sind wir ständigen Krisen ausgesetzt. Corona, Krieg und Inflation haben eigentlich nichts mit dem SPNV zu tun, sorgen aber bei vielen Menschen für eine andauernde, latente Grundunsicherheit und schüren Ängste, die dann schon bei kleinen Anzeichen einer sozialen Desorganisation zum Tragen kommen. Müll, üble Gerüche, Graffiti oder Vandalismusschäden verursachen Unbehagen und sind im SPNV nicht so selten.


Zudem haben Reisende unterschiedliche Bedürfnisse. Die einen kommen nach einem harten Arbeitstag müde nach Hause, während andere alkoholisiert nach einer fröhlichen Feier unterwegs sind. Auch da kann bei dem ein oder anderen ein Gefühl von Unsicherheit entstehen, das nichts mit einer realen Gefährdung zu tun haben muss.


Nun gelten gerade Frauen im SPNV als gefährdet, insbesondere zur Nachtzeit. Sind Frauen tatsächlich unsicherer?


Prof. Wollinger: Der SPNV ist als öffentlicher Raum für viele Menschen zugänglich und es gibt hier Gruppen, die zu Recht eine wachsende Unsicherheit verspüren. Das sind aber nicht Frauen an sich, sondern zum Beispiel obdachlose Männer und Frauen. Ihr Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, ist deutlich höher als das anderer Personen. Bei Frauen oder auch älteren Menschen ist das nicht so, zumal die Straftaten im öffentlichen Raum insgesamt eher rückläufig sind. Da besteht eine Diskrepanz zwischen dem realen Risiko, Opfer zu werden, und dem subjektiven Sicherheitsempfinden bzw. den persönlichen Ängsten. In der Fachsprache heißt das Kriminalitätsfurcht-Paradox.


Portrait von Gina Rosa Wollinger, Professorin für Kriminologie und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW Quote

Wer um die subjektiven Unsicherheitsgefühle von Fahrgästen weiß und diese ernst nimmt, kann eine gute Prävention betreiben.

Gina Rosa Wollinger

Professorin für Kriminologie und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW

Wie können die Verkehrsunternehmen das Paradox denn lösen? Was können sie tun, damit sich ihre Fahrgäste wohl und sicher fühlen?


Prof. Wollinger: Eine zentrale Stellschraube ist sicher die Pflege von Bahnhöfen, Stationen und Fahrzeugen. Pflege beschränkt sich dabei nicht auf die Sauberkeit oder die Beseitigung von Graffiti und Vandalismusschäden, sie beinhaltet eine kriminalpräventive Raumgestaltung und umfasst viele Maßnahmen, die auf unterschiedliche regionale Begebenheiten Bezug nehmen müssen. Ein Hauptbahnhof in der Stadt, an dem sich rund um die Uhr viele Menschen aufhalten, braucht ein anderes Konzept als eine kleine, zur Nachtzeit vereinsamte Station auf dem Land. Für den SPNV gibt es, wie für jeden öffentlichen Raum, nicht die eine Sicherheitslösung.


Übliche Sicherheitsmaßnahmen wie Videoüberwachung, verstärkte Polizeipräsenz oder zusätzliches Sicherheitspersonal mögen hinsichtlich bestimmter Delikte kurzfristig zu rückläufigen Zahlen führen, allerdings beinhaltet dies auch immer das Risiko der Verdrängung an andere Orte. Letztendlich lösen diese Maßnahmen keine sozialen Probleme, die sich an öffentlichen Orten kumulieren und Unsicherheitsgefühle hervorrufen können. Man muss jeden Bahnhof, jede Station und jede Bahnlinie sehr genau anschauen und dann die jeweils passende Lösung finden. Das aber können weder die Verkehrsunternehmen noch die Polizei allein. Kooperationen vor Ort, sogenannte Ordnungspartnerschaften, an denen sich beispielsweise Kommunen, Nachbarschaften, Vereine und/oder soziale Einrichtungen wie Drogen-, Obdachlosen- oder Jugendhilfe beteiligen, sind hier ein Ansatz.


Wie finden Sie den konzeptionellen Ansatz von Fokus Bahn NRW für eine unternehmensübergreifende Sicherheitsarbeit im SPNV?


Prof. Wollinger: Ich finde das neue Sicherheitsprojekt von Fokus Bahn NRW sehr spannend. Ein landesweites Sicherheitskonzept für den SPNV mit einheitlichen Standards, basierend auf Best Practices, kann Rahmenbedingungen schaffen, in denen die Verkehrsunternehmen weiterarbeiten können – angefangen bei der kriminalpräventiven Raumgestaltung bis hin zur Bildung einer Ordnungspartnerschaft. Der notwendigen Flexibilität, die unterschiedliche Sicherheitslagen erfordern, steht dies nicht entgegen.


Sehr gut finde ich den Ansatz, die Sicherheitsarbeit auf die Fahrgäste zu fokussieren und ein kontinuierliches Sicherheitsmonitoring zu etablieren, das auch Fahrgastbefragungen beinhaltet. Über ein gutes Sicherheitsmonitoring lässt sich ermitteln, wo und warum sich Menschen im SPNV unwohl fühlen. Für die einen ist es die dunkle Unterführung zum Bahnsteig, für die anderen sind es feiernde, alkoholisierte Gruppen, die den Bahnhof regelmäßig zur Partymeile machen, für einige Menschen sind es leider auch eigene Gewalterfahrungen, die nicht unbedingt im SPNV erfolgt sind. Wer um die subjektiven Unsicherheitsgefühle von Fahrgästen weiß und diese ernst nimmt, kann eine gute Prävention betreiben.


Die Nahverkehrsbahnen in NRW beobachten derzeit eine zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber ihren Mitarbeitenden. Wie können sie ihre Lokführer/innen und Zugbegleiter/innen besser schützen?


Prof. Wollinger: Hier stellt sich mir zunächst die Frage nach einer wirksamen Deeskalation. Aus einer Studie zum Einsatz von Bodycams bei der Polizei in NRW wissen wir zum Beispiel, dass die Beamt/innen sich durch die technische Unterstützung sicherer fühlen, die Kameras allein aber nicht deeskalierend wirken. Ebenso wichtig sind die Kommunikation und die Interaktion beim Gebrauch dieser Technik. Das muss trainiert werden, wenn Bodycams auch bei den Sicherheitsteams im SPNV zum Einsatz kommen sollen.


Kommunikations- und Deeskalationsschulungen können grundsätzlich alle Mitarbeitenden, die im Kontakt mit den Fahrgästen stehen, auf mögliche Konfliktsituationen vorbereiten. Leitfäden zum Verhalten in Konfliktsituationen können sie in ihrer Handlungskompetenz stärken.


Eine starke Handlungskompetenz ist natürlich auch für die Fahrgäste wichtig, wenn sie Konflikte beobachten oder sich sogar selbst bedroht fühlen. Tipps zum richtigen Verhalten in Notfällen und Rufnummern mit Ansprechpartner/innen sollten in allen Bahnen und Stationen gut auffindbar sein. Wenn die Fahrgäste wissen, was sie in Notfällen tun und an wen sie sich wenden können, durchbricht das die oft empfundene Anonymität im öffentlichen Raum und unterstützt die eigene Zivilcourage.