Im Gespräch mit Philipp Kühn, ZUKUNFT NAHVERKEHR

Programm
03. Juli 2025
"Wir müssen uns stärker auf den gesellschaftlichen Nutzen des ÖPNV fokussieren"
Deutschlandticket erhalten, Infrastruktur sanieren und bedarfsgerechte ÖPNV-Angebote schaffen: Auf der To-Do-Liste für die Mobilitätswende stehen klar definierte Aufgaben. Doch die Umsetzung birgt enorme Herausforderungen. Ein Grund dafür sind die fehlenden Fachkräfte, ein weiterer die in aktuellen Krisenzeiten steigenden Betriebskosten bei den Verkehrsunternehmen sowie Finanzierungsvorbehalte der öffentlichen Haushalte beim Angebotsausbau. Deshalb sei es umso wichtiger, im politischen Diskurs nicht allein die Kosten des ÖPNVs zu veranschlagen, sondern seine gesamtgesellschaftliche Wertschöpfung in den Blickpunkt zu rücken, meint Philipp Kühn, Leiter Marktstrategie und Branchenkommunikation bei der DB Regio AG und Verantwortlicher der Brancheninitiative ZUKUNFT NAHVERKEHR (ZNV). Im Interview mit Fokus Bahn NRW spricht er über ÖPNV als Wirtschaftsfaktor, in den es sich lohnt zu investieren.

Gezielte Investitionen in den ÖPNV bringen positive Renditen für die ganze Gesellschaft.
Philipp Kühn
Initiative ZUKUNFT NAHVERKEHR
Engpässe in der Schienen-Infrastruktur und der Personalmangel bei den Lokführer/innen stellen für Fahrgäste und Mitarbeitende im SPNV bundesweit tagtäglich hohe Belastungen dar. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage?
Philipp Kühn: Die aktuelle Situation im SPNV ist ohne Zweifel überaus schwierig, aber ich sehe die Anstrengungen beim Infrastrukturausbau und vor allem den politischen Gestaltungswillen, der sich durchaus auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung wiederfindet, positiv. Die Mobilität auf der Schiene steht jetzt wie die Bahnbranche selbst vor einer wichtigen Weichenstellung: Wie schaffen wir es als Branche den politischen Gestaltungswillen umzusetzen? Die Infrastruktur wird so instand gesetzt werden, dass wir am Ende wieder zuverlässig mehr Angebot fahren können. Aber wie managen wir als Branche die Übergangszeit, die das starke Baugeschehen mit sich bringt?
Was können die Nahverkehrsbahnen in dieser Übergangszeit tun, damit Verkehre besser rollen und Fahrgäste nicht verloren gehen?
Philipp Kühn: Ich verweise da gerne auf das Beispiel der Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim. Während der Generalsanierung wurde ein mindestens gleichwertiges, an den regionalen Bedürfnissen orientiertes Angebot im Schienenersatzverkehr umgesetzt. Die Ersatzbusse fuhren nicht einfach nur parallel zur Schiene, sondern bedienten auch Querverbindungen, die es im normalerweise nicht gibt. So konnten bis zu 16.000 Fahrgäste täglich ihre Ziele gut und verlässlich erreichen. Die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage zeigten, dass neun von zehn SPNV-Kunden die Ersatzbusse gerne nutzten. 89 Prozent der Befragten gaben den Fahrten die Schulnote eins oder zwei. Für eine nachhaltige Kundenbindung lohnt es sich also, in hochwertige Schienenersatzverkehre zu investieren. Außerdem wichtig ist eine vorausschauende und transparente Fahrgastkommunikation. Dann werden Baumaßnahmen, Umleitungen und Ersatzverkehre sehr viel besser akzeptiert.
Eine weitere Herausforderung, besonders für die Bahnbranche, ist der Fachkräftemangel. Wie lassen sich in schwierigen Zeiten neue Mitarbeitende gewinnen?
Philipp Kühn: Bahnfahren wird in der öffentlichen Wahrnehmung derzeit mit vielen negativen Emotionen verbunden. Dennoch haben in unserer Branche nahezu alle Mitarbeitenden eine stark ausgeprägte Identifikation mit ihrem Berufsbild und dem Produkt ÖPNV. Sie wissen um die Bedeutung von Mobilität und engagieren sich für die Mobilität ihrer Mitmenschen, wollen sie mit einer guten Verkehrs- und durchaus auch Teamleistung unterstützen. Darüber hinaus ist gerade das Thema Eisenbahn sehr stark emotional besetzt, Lokführer ist für viele Menschen ein Traumberuf aus Kindheitstagen. Diese positiven Emotionen sind ein effektives Asset für die Kommunikation und das Recruiting. Richtig finde ich zudem den Ansatz, dass sich die Branche wie zum Beispiel auch im Rahmen von Fokus Bahn zusammenschließt, um gemeinsam Menschen für den SPNV zu gewinnen.
Mobilität ist ein Grundbedürfnis, das wir in Zukunft besser erfüllen können als heute.
Philipp Kühn
ZUKUNFT NAHVERKEHR
In den Zukunftsvisionen von Politik und Branche beschränkt sich der ÖPNV längst nicht mehr nur auf Bus und Bahn. On-Demand-Verkehre zum Beispiel bieten eine flexible Ergänzung des Angebots. Im Alltag der Fahrgäste ist das so aber noch nicht angekommen. Woran liegt das?
Philipp Kühn: On-Demand-Verkehre können insbesondere in ländlichen Regionen mehr Anbindung und mehr Teilhabe ermöglichen. Aber sie werden vielerorts bisher nur als einzelne Pilotprojekte umgesetzt, mit wenigen Fahrzeugen und auf begrenzte Zeit. Das eigentliche ÖPNV-Angebot wird im Grunde nicht angepasst, sondern befristet ergänzt. Das hat positive Effekte, wie z. B. das Pilotprojekt Smile24 der nah.sh in Schleswig-Holstein zeigt. Aber ob das zu einer langfristigen Veränderung im Mobilitätsverhalten der Fahrgäste führt, ist offen. Nun können On-Demand-Verkehre, einzeln für sich betrachtet, auch nicht wirtschaftlich sein. Aber sie können zur Auslastung und damit zur Wirtschaftlichkeit des Gesamtangebots beitragen. Deshalb sollte die Branche Mobilitätsräume betrachten und in Modellregionen gezielte Angebotsveränderungen wagen, die dem Bedarf der Menschen entsprechen. Wenn On-Demand-Verkehre als Teil eines integrierten ÖPNV-Angebots in einem Mobilitätsraum eingerichtet und etabliert werden, dann können wir damit auch Fahrgäste für den ÖPNV gewinnen.
Nun ist die Wirtschaftlichkeit des ÖPNV seit jeher ein viel diskutiertes Thema. Kann ÖPNV überhaupt wirtschaftlich sein?
Philipp Kühn: Leider dreht sich die öffentliche Diskussion über den ÖPNV nahezu ausschließlich um die Kosten, die er verursacht, und die Frage, wie viel ÖPNV wir uns angesichts knapper Kassen leisten können. Viel lieber würde ich stärker den gesellschaftlichen Nutzen des ÖPNV betrachten, damit die Frage lautet: Wie viel sollten wir in den ÖPNV investieren, um daraus Vorteile zu ziehen? ZUKUNFT NAHVERKEHR hat dafür beim M-Cube (Münchner Cluster für die Zukunft der Mobilität in Metropolregionen) eine neue wissenschaftliche Studie zum Wirtschaftsfaktor ÖPNV beauftragt, die vor kurzem veröffentlicht wurde. Darin wird deutlich, dass der wirtschaftliche Nutzen des ÖPNV, also die Wertschöpfung, die durch ÖPNV in Deutschland entsteht, dreimal so hoch ist wie seine Kosten. Oder andersherum: Für jeden Euro, der in den ÖPNV investiert wird, bekommt die Gesellschaft drei Euro wieder raus.
Können Sie bitte das näher erläutern?
Philipp Kühn: Es entsteht Wertschöpfung weit über die eigene Produktionsleistung und die dafür erforderlichen Faktoren hinaus. Der ÖPNV bringt sehr viele Menschen zur Arbeit, die Studie leitet valide höhere Umsätze in Einzelhandel und Tourismus bei gutem ÖPNV-Angebot her. Und schon heute vermeidet der ÖPNV negative externe Effekte in Milliardenhöhe. Wenn man all das zusammennimmt, ergibt sich eine Wertschöpfung von 75 Mrd. Euro, denen Kosten von etwa 25 Mrd. Euro gegenüber stehen. Und es ist nicht entscheidend, ob diese Rechnung auf den Euro genau stimmt. Entscheidend ist, dass der Nutzen die Kosten um ein Vielfaches übersteigt und das eine neue Perspektive ist, die aus meiner Sicht in der öffentlichen und auch politischen Diskussion um Mobilität mehr Raum einnehmen könnte.
Weitere positive Effekte sind aktuell kaum zu berechnen aber real. So kann ein attraktives ÖPNV-Angebot beispielsweise dazu beitragen, dass in Innenstädten weniger Straßenfläche und Parkraum benötigt wird. Dadurch könnten versiegelte Flächen begrünt werden mit positiven Auswirkungen auf „das Stadtklima“ und dann z.B. für Spielmöglichkeiten oder Außengastronomie genutzt werden – was für mich zur Lebensqualität beitragen würde. Natürlich entstehen dadurchVeränderungen, die nicht für jeden unmittelbar positiv sind, aber auch hier könnte man den Nutzen noch mehr in den Mittelpunkt der Diskussionen stellen.
Mehr ÖPNV bringt viel positive Veränderung, von der wir alle etwas haben.
Philipp Kühn
ZUKUNFT NAHVERKEHR
Das Deutschlandtickets war ein Dauerbrenner im politischen Diskurs. Jetzt soll es bleiben, preisstabil bis 2029. Was bringt die ÖPNV-Flatrate?
Philipp Kühn: Das Deutschland-Ticket ist eine tiefgreifende Veränderung für die ganze ÖPNV-Branche, und ich kann viele der damit verbundenen Auswirkungen gar nicht vollumfassend bewerten. Aber aus meiner persönlichen Perspektive als ÖPNV-Nutzer hat das Deutschlandticket für mich einen großen Wert. Ich kann für einen relativ überschaubaren Betrag den ÖPNV einfach überall nutzen. Das führt zumindest bei mir dazu, dass ich jetzt deutlich mehr Fahrten mit dem ÖPNV mache als vorher – und darunter sind auch welche, die ich sonst mit dem Auto gemacht hätte. Der ÖPNV ist durch das Deutschlandticket für die Fahrgäste attraktiver geworden. Durch die einfache Handhabung des Tickets in Verbindung mit der nun bestehenden langfristigen Perspektive lassen sich jetzt noch weitere Nutzer für den ÖPNV und das Deutschlandticket gewinnen.
Wären Investitionen in das Angebot nicht wichtiger gewesen?
Philipp Kühn: Die Kollegen vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen sagen immer: Dem Deutschlandticket muss ein Deutschlandangebot folgen. Länder wie Österreich haben den umgekehrten Weg genommen – also zuerst das ÖPNV-Angebot ausgebaut und dann die Preise reduziert. Bei uns ist die Sachlage eben anders, und ich sehe da auch kein Entweder-Oder. Ein einfaches Ticket ist genauso wichtig wie ein attraktives, flächendeckendes Angebot. Wir haben zuerst an der einen Stellschraube gedreht, jetzt müssen wir vielleicht etwas stärker an der anderen drehen. Auch hier ist die jetzt vorhandene langfristige Perspektive entscheidend, mit der jetzt die richtigen Schwerpunkte gesetzt werden können und die Branche arbeiten und gestalten kann.
Zukunft Nahverkehr
„Mehr ÖPNV. Mehr Veränderung.“, lautet das Motto der Brancheninitiative ZUKUNFT NAHVERKEHR (ZNV), die 2023 von Philipp Kühn, Leiter Marktstrategie und Branchenkommunikation bei der DB Regio AG, ins Leben gerufen wurde. Sie versteht sich als Plattform für alle, die zukunftsorientierte Mobilität gemeinsam gestalten. Die vielfältigen Mehrwerte des öffentlichen Nahverkehrs macht ZNV u. a. auf Branchen- und Netzwerkveranstaltungen zum Gesprächsthema, aber auch über Kooperationen mit Forschungseinrichtungen und Medien sowie mit Publikationen und Filmen. So wurde mit dem SZ Institut der ZNV Denkraum25 etabliert, in dem Fachleute aus Wissenschaft und Praxis Potenziale der öffentlichen Mobilität erforschen. Erste Ergebnisse sollen auf der IAA Mobility im September 2025 vorgestellt werden.
Wertschöpfung ÖPNV
Der ÖPNV generiert jährlich rund 75 Milliarden Euro Wertschöpfung: das Dreifache seiner Kosten. Mit Investitionen bis 2030 könnte die Wertschöpfung auf 162 Milliarden Euro jährlich steigen. Das zeigt die Studie „Wertschöpfung ÖPNV", die das Münchner Mobilitätscluster MCube im Auftrag von ZUKUNFT NAHVERKEHR erstellt hat.
Fokus Bahn Interviews
Mit Expert/innen aus Politik und Gesellschaft erörtert Fokus Bahn NRW aktuelle Fragen zur öffentlichen Mobilität. Philipp Kühn ist der siebte Gesprächspartner. Er folgt auf Christof Rasche (FDP NRW), Ina Besche-Krastl (GRÜNE NRW), Carsten Löcker (SPD NRW), Lothar Ebbers (Pro Bahn NRW), Matthias Goeken (CDU NRW) und Marcel Scharrelmann (CDU Niedersachsen).